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„Freie Mitarbeit“ eines MKG-Chirurgen – sozialversicherungsrechtliche Selbstständigkeit oder Arbeitsverhältnis?

Das Landessozialgericht Baden-Württemberg hatte sich im Rahmen einer sog. Statusfeststellung mit der Frage zu beschäftigen, wie der sozialversicherungsrechtliche Status eines Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen in einer Tagesklinik zu bewerten war.

Der Sachverhalt

Ein Facharzt für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie schloss mit dem alleinigen Inhaber einer privatärztlichen Zahnarztpraxis („Tagesklinik“) einen „Vertrag über die Tätigkeit als freier Mitarbeiter“. Aufgrund seiner Tätigkeit in einer anderen Praxis war er wegen seiner Mitgliedschaft in einer berufsständischen Versorgungseinrichtung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit worden.

Sowohl der MKG-Chirurg als auch der Inhaber der Tagesklinik beantragten die Feststellung des sozialversicherungsrechtlichen Status dahin, dass eine Beschäftigung nicht vorliege. Die zuständige Deutsche Rentenversicherung (DRV) Bund stellte demgegenüber fest, dass die Tätigkeit des MKG-Chirurgen bei der Tagesklinik im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt werde und deshalb Versicherungspflicht in der Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung bestehe. In der Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung sei der MKG-Chirurg dagegen versicherungsfrei.

Widerspruch und Klage blieben erfolglos. Das LSG Baden-Württemberg wies die Berufungen beider Vertragspartner mit Urteil vom 13.08.2021 (Az. L 4 BA 328/19) zurück.

Die Entscheidungsgründe

Versicherungspflichtig seien gegen Arbeitsentgelt beschäftigte Personen. Beschäftigung sei nach dem Gesetz die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Anhaltspunkte dafür seien eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers. Maßgebend sei das Gesamtbild der Arbeitsleistung, das sich nach den tatsächlichen Verhältnissen bestimme.

Soweit hier geltend gemacht worden sei, der MKG-Chirurg könne seine Dienste frei und unabhängig selbst bestimmen, indem er sich für Dienste bereit erkläre, es für ihn jedoch keine Verpflichtung gebe, einen bestimmten Dienst oder eine bestimmte Anzahl von Diensten zu übernehmen und er auch keinen Anspruch darauf habe, an den von ihm gewünschten Behandlungstagen Behandlungsaufträge durchzuführen, lasse sich hieraus kein Gesichtspunkt herleiten, der für die Ausübung einer selbständigen Tätigkeit spreche. Zu berücksichtigen seien insoweit die Besonderheiten gerade der ärztlichen Tätigkeit. So handelten Ärzte bei medizinischen Heilbehandlungen und Therapien grundsätzlich frei und eigenverantwortlich. Hieraus könne aber nicht ohne weiteres auf eine selbständige Tätigkeit geschlossen werden. Dies schon deshalb nicht, weil selbst Chefärzte als Arbeitnehmer zu qualifizieren seien.

Die ärztliche Tätigkeit des MKG-Chirurgen erhalte hier ihr Gepräge durch die Ordnung der Tagesklinik und er sei im Rahmen der Durchführung seiner Behandlungsaufträge in deren Strukturen eingegliedert. Im Rahmen seiner Tätigkeit habe er nur Patienten behandelt, deren Behandlung ihm seitens der Tagesklinik angetragen worden sei. Auch der Behandlungsvertrag mit den Patienten sei stets mit der Tagesklinik zustande gekommen. In der Tagesklinik habe er nicht über einen eigenen Behandlungsraum verfügt, den er jederzeit ohne weiteres und ohne Abstimmung mit anderen in der Praxis tätigen Ärzten zur Durchführung seiner Behandlungen hätte in Anspruch nehmen können. Vielmehr hätten die von ihm vorgeschlagenen Behandlungstermine einer Bestätigung der Tagesklinik bedurft, um die Verfügbarkeit eines Behandlungsraums sicherzustellen. Ferner habe er die von der Tagesklinik vorgehaltene EDV-Ausstattung sowohl zur Terminplanung als auch zur Dokumentation der Behandlung genutzt. Das arbeitsteilige Zusammenwirken des MKG-Chirurgen mit den personellen Ressourcen der Tagesklinik zeige sich zudem darin, dass ihm bei der Durchführung der Behandlung regelmäßig Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Tagesklinik assistiert hätten und dabei nicht nur seinen fachlichen Weisungen, sondern hinsichtlich der Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen zu Arbeitszeit und Arbeitsschutz auch seiner Fürsorge unterlegen hätten. Schließlich betone auch die im Vertrag über die Tätigkeit als freier Mitarbeiter mehrfach verankerte Verpflichtung, bei der Durchführung der Aufträge die Interessen der Tagesklinik zu wahren, die Maßgeblichkeit der organisatorischen, sächlichen und personellen Strukturen der Tagesklinik für die Tätigkeit des MKG-Chirurgen.

Dieser habe auch kein nennenswertes, das Gesamtbild der Arbeitsleistung prägendes Unternehmerrisiko getragen. Er habe kein relevantes Verlustrisiko getragen. Seine Tätigkeit habe keine relevanten Betriebsmittel erfordert und seine Arbeitskraft habe er nicht mit der Gefahr des Verlustes eingesetzt. So habe er für die erbrachten Behandlungsleistungen eine Vergütung in Höhe von zunächst 50 %, später in Höhe von 40 % des für seine Leistungen von der Tagesklinik abgerechneten Honorars erhalten. Das Risiko, nicht wie gewünscht arbeiten zu können, weil Patienten Termine so kurzfristig absagten, dass keine Behandlung eines anderen Patienten mehr habe anberaumt werden können, stelle kein Unternehmerrisiko dar, sondern eines, das auch jeden Arbeitnehmer treffe, der nur Zeitverträge bekomme oder auf Abruf arbeite und nach Stunden bezahlt werde oder unständig Beschäftigter sei. Er habe in der Praxis weder über eigene von ihm zu unterhaltende Räumlichkeiten verfügt noch im Rahmen seiner Tätigkeit eigene Mitarbeiter beschäftigt. Für seine Tätigkeit habe er auch keine Betriebsmittel eingesetzt, die zu einem unternehmerischen Risiko führen würden. So habe er zur Durchführung von Behandlungsaufträgen in der Tagesklinik lediglich Arbeitskleidung, seine eigenen Operationsbestecke sowie seine Lupenbrille, Osteosyntheseschrauben und Schraubendreher mitgebracht, die er auch in den anderen Zahnarztpraxen, in denen er tätig gewesen sei, habe einsetzen können.

Soweit er nach dem Vertrag über die Tätigkeit als freier Mitarbeiter für die von ihm erbrachten Behandlungen dann kein Honorar habe beanspruchen können, wenn dieser seinerseits keine Zahlung von den Privatpatienten erhalten habe, handele es sich zwar um eine für eine abhängige Beschäftigung untypische Vereinbarung, die für ihn das Risiko begründet habe, für erbrachte Behandlungen keine Vergütung zu erhalten. Ein echtes Unternehmerrisiko liege darin jedoch nicht, da diesem Risiko keine zusätzlichen Kosten für brachliegende betriebliche Investitionen gegenübergestanden hätten. Auch größere Verdienstchancen hätten nicht bestanden.

Für eine selbständige Tätigkeit spreche der Umstand, dass der MKG-Chirurg seine Behandlungstermine in zeitlicher Hinsicht sowie die Behandlungsmethode in Absprache mit den Patienten im Wesentlichen frei habe bestimmen können. Dafür könne auch der in dem „Vertrag über die Tätigkeit als freier Mitarbeiter“ klar formulierte Wille sprechen, keine abhängige Beschäftigung zu begründen, ebenso, dass arbeitnehmertypische Ansprüche auf Urlaub und Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nicht vereinbart gewesen seien, der MKG-Chirurg selbstständig für seine soziale Absicherung, insbesondere für eine ausreichende Krankenversicherung und evtl. weitere Altersversorgung, zu sorgen und die aus dem Honorar zu entrichtende Einkommensteuer selbst abzuführen gehabt hätte.

Gleichwohl führe das Gesamtbild der Tätigkeit unter Abwägung aller Merkmale zum Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung. Ausschlaggebend dafür sei in erster Linie der Grad der Einbindung in die Organisationsstruktur der Tagesklinik.

Soweit der MKG-Chirurg von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung wegen seiner Beschäftigung bei einem anderen Arbeitgeber befreit worden sei, wirke die Befreiung nicht personenbezogen, sondern tätigkeitsbezogen und gelte nur für diejenige konkrete Tätigkeit, für die sie erteilt sei. Eine einmal erteilte Befreiung von der Rentenversicherungspflicht entfalte aber keine Wirkung für ein späteres Beschäftigungsverhältnis bei einem anderen Arbeitgeber, selbst wenn dabei ebenfalls - wie hier - eine berufsgruppenspezifische Tätigkeit ausgeübt werde.

Hinweise für die Praxis

Die sorgfältig begründete Entscheidung macht deutlich, dass es für die Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Renten- und Arbeitslosenversicherung nicht allein auf die Gestaltung eines Vertrages über eine freie Mitarbeit ankommt, sondern das Gesamtbild für die Bewertung prägend ist. Wesentlich ist hierbei – von medizinischen Fragen abgesehen – vor allem der Grad einer organisatorischen Einbindung in das Unternehmen des Vertragspartners und die Tragung eines unternehmerischen Risikos. Das führt im Einzelfall dazu, dass die Rechtsprechung der Berufungsgerichte in vielfältigen Konstellationen eine Versicherungspflicht angenommen hat (z. B. eines Arztes, der im Zusammenhang mit Ambulanzflügen Passagiere betreut; eines Notarztes im Rettungsdienst; einer Ärztin, die in einer Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge im Bereich der ambulanten medizinischen Versorgung für Ausländer Erstuntersuchungen und Aufgaben des Infektionsschutzes durchführt; eines Arztes, der schichtweise für die Polizei in deren Gewahrsamsstellen Blutentnahmen und Verwahrfähigkeitsuntersuchungen vornimmt; einer Ärztin in ihrer Tätigkeit als voruntersuchende Ärztin im Blutspendendienst für eine gGmbH).


RA Detlef Kerber

lennmed.de Rechtsanwälte

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