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Höchstschmerzensgeld wächst auf 800.000,- €

Von „amerikanischen Verhältnissen“ ist Deutschland in Sachen Schmerzensgeld zwar noch ein Stück entfernt, doch die ausgeurteilten Kapitalbeträge wachsen im Extremfall in Richtung siebenstelliger Bereich. Zuletzt hat erstmals ein deutsches Obergericht, namentlich das OLG Oldenburg, ein Schmerzensgeld von 800.000,- € bestätigt (Urt. v. 18.03.2020, Az.: 5 U 196/18) 

DER FALL

Der zum Behandlungszeitpunkt 2011 fünfjährige Kläger war abends mit hohem Fieber und Schüttelfrost notfallmäßig in dem beklagten Krankenhaus aufgenommen worden. Dort diagnostizierte man „Fieber unklarer Genese“. Dem Kläger wurde eine Infusion gelegt. Über Nacht, nur von einem Pfleger überwacht, erbrach der Kläger sich mehrmals, dabei entriss er sich auch die Infusionsnadel. Außerdem stellte der Pfleger großflächige Hautveränderungen (Flecken) fest. Einen Arzt zog er aber nicht zu.

Bei der Visite am Morgen wurde eine Hirnhautentzündung und eine sog. Meningokokkensepsis festgestellt. In katastrophalem Allgemeinzustand, desorientiert, mit blau-schwarzen Hautnekrosen am ganzen Körper und im Gesicht sowie bereits verwesendem Gewebe an beiden Unterschenkeln wurde der Kläger verlegt. Ihm wurden beide Unterschenkel und die rechte Kniescheibe amputiert bzw. entfernt, die Stümpfe mussten mehrfach revidiert werden. Die prothetische Versorgung der Beine war wegen immer wieder auftretender Druckstellen bis zur Entscheidung im März 2020 nicht gelungen. Hinzu treten großflächige Muskelverschmächtigungen im Oberkörper mit der Folge der Bewegungseinschränkung, multiple Entstellungen wegen Hauttransplantationen u. a. auch im Gesicht sowie psychiatrische und entwicklungspsychologische Folgeschäden.

Das LG Aurich hatte zunächst mit einem vom OLG Oldenburg bestätigten sog. Grundurteil in dem nächtlichen Verhalten des Pflegers dem Krankenhaus zurechenbare grobe Behandlungsfehler gesehen. Nunmehr ging es noch um die Höhe des Schadens, insbesondere die Höhe des Schmerzensgeldes. Das LG Aurich warf unter ausführlicher Darstellung der entstandenen Schäden ein Schmerzensgeld in Höhe von 800.000,- € aus (Urt. v. 23.11.2018, Az.: 2 O 165/12). Gegen die Höhe der Verurteilung legte das beklagte Krankenhaus Berufung ein.

DIE ENTSCHEIDUNG

Das OLG wies die Berufung als unbegründet zurück. Das OLG betonte wie das LG, dass es sich angesichts des Lebensalters des Klägers um einen besonderen Fall handele. Er sei gerade alt genug, sich des Ausmaßes der Schädigung und der Folgen (u. a. wahrscheinlich lebenslang an den Rollstuhl gebunden, dauernde Revisions-OPs) vollauf bewusst zu sein, habe zugleich aber fast sein ganzes Leben noch vor sich, weshalb die Dauer, für die er unter den Schäden und daraus folgende dauernder Behandlungsbedürftigkeit leiden werde, rund 80 Jahre betragen werde.

Hinzu träte der bereits absolvierte Leidensweg u. a. mit zahllosen Operationen an den Beinstümpfen in Vollnarkose und Hauttransplantationen, dem fast drei Jahre andauernden Tragen eines Ganzkörper-Kompressionsanzugs, mit dem er auch die Schule besuchen musste.

Angesichts des Beschwerdebildes handele es sich um einen extremen Ausnahmefall. Gerade deshalb sprenge die Zumessung aber den bisherigen „Referenzrahmen“, anderer Schmerzensgeldentscheidungen, die maximal 500.000,- € zusprachen, nicht. Eine von vorne herein feststehende, allgemeine Obergrenze gebe es ohnehin nicht. Die Höhe sei zunächst am Einzelfall zu bemessen, sodann an mit Referenzentscheidungen abzugleichen. Gemessen an anderen Entscheidungen, die einen Kapitalschmerzensgeldbetrag nebst einer Schmerzensgeldrente zuerkannt hätten, sei der Betrag im Übrigen auch nicht weit von bisherigen Urteilen entfernt.

Die von den Beklagten angeführte vermeintliche absolute Obergrenze von rund 500.000,- € sei schon deshalb abzulehnen, weil die dort in Rede stehenden Fälle solche mit sog. komplettem Persönlichkeitsverlust infolge schwerer Hirnschädigungen beträfen. Das sei mit dem vorliegenden Fall, in dem sich der Kläger des Schadens vollauf bewusst sei und werde, nicht zu vergleichen.

Zu Letzterem ist allerdings ergänzend zu sagen, dass auch in einem solchen, bisher indes nicht rechtskräftig entschiedenen Fall am LG Gießen (Urt. v. 06.11.2019, Az.: 5 O 376/18) ein Schmerzensgeld in Höhe von 800.000,- € zuerkannt wurde. Der dortige Kläger hatte aufgrund eines groben Behandlungsfehlers während einer Operation eine schwere Sauerstoffunterversorgung mit der Folge u. a. eines apallischen Syndroms, einer spastischen Tetraparese, einer Epilepsie und des nahezu vollständigen Verlusts des Sprechvermögens bei dauerhafter Ernährung über eine Magensonde, also genau jenes Schadensbild, bei dem die Rechtsprechung von einem Persönlichkeitsverlust ausgeht, erlitten. Zur Begründung führte das Gericht die Notwendigkeit der Indexierung angesichts der inzwischen knapp 20 Jahre alten Rechtsprechung in Höhe von 500.000,- € sowie die dauerhafte Niedrigzinsphase aus, die eine Erhöhung der Entschädigung gebiete, aus.

Insofern ist durch die drei Entscheidungen, insbesondere die des OLG Oldenburg, der Rahmen möglicher Schmerzensgeldbeträge in den letzten 12 Monaten deutlich erweitert worden.


RA Anno Haak, LL.M. Medizinrecht
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