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Kein Cannabis auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung bei ADHS

Das Landessozialgericht Baden-Württemberg hat mit Urteil vom 22.03.2022 (Az. L 11 KR 3804/21) über den Anspruch eines an ADHS leidenden Versicherten auf Versorgung mit Cannabis entschieden.

 

Die Situation

Hinter ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung; vulgo: Zappelphilipp-Syndrom) verbirgt sich eine psychische Auffälligkeit, die bereits im Kindesalter auftritt und deren Symptome sich bis ins Erwachsenenalter fortsetzen können. Schätzungen zufolge leiden 2 bis 6 Prozent aller Kinder und Jugendlichen unter krankhaften Störungen der Aufmerksamkeit und an motorischer Unruhe.

Für die Behandlung der ADHS kommen eine Psychotherapie, z. B. Verhaltenstherapie des Kindes, Eltern- und Lehrertraining sowie im Einzelfall auch eine medikamentöse Therapie in Betracht. Medizinische Fachgesellschaften (AWMF) haben hierzu eine S3-Leitlinie „ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen“ entwickelt (Mai 2017, in Überarbeitung) und der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat in seinen Arzneimittel-Richtlinien die Voraussetzungen für die Verordnungsfähigkeit Methylphenidat-haltiger Präparate für Kinder und Jugendliche, aber auch für Erwachsene festgelegt.

Der Fall

Der 1985 geborene und gesetzlich krankenversicherte Kläger leidet seit seiner Kindheit an ADHS. Mit 13 Jahren setzte er die Behandlung mit Ritalin ab und raucht seitdem Cannabis. Im Mai 2020 beantragte er bei seiner Krankenkasse die Kostenübernahme für eine Behandlung mit Cannabisblüten. Sein behandelnder Hausarzt befürwortete diese Therapie und führte in einer Stellungnahme u.a. aus, der Kläger habe durch die Zwangseinnahme von Ritalin eine Abneigung gegen jegliche Einnahme von Tabletten entwickelt. Er profitiere von Cannabis die letzten 20 Jahre. Das Problem sei nur die Illegalität seiner Therapie, die ihn allein in diesem Jahr schon 3.000 EUR gekostet habe. Nach Einholung eines Gutachtens des Medizinischen Dienstes (MDK) lehnte die Krankenkasse den Antrag ab. Klage und Berufung hiergegen blieben erfolglos.

Das Urteil

Das Landessozialgericht ließ sich von dem klägerischen Vorbringen nicht überzeugen. In seinem Urteil führt es aus, Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon bestehe gemäß § 31 Abs. 6 SGB V für Versicherte mit einer „schwerwiegenden Erkrankung“. Da die Versorgung mit Cannabis als Ersatz für eine nicht zur Verfügung stehende oder im Einzelfall nicht zumutbare allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung konzipiert sei, sei dieser Begriff wie ein Fall des gesetzlich geregelten „Off-Label-Use“ zu verstehen. Die ADHS sei nach den hier vorliegenden medizinischen Unterlagen weder eine lebensbedrohliche Erkrankung noch beeinträchtige sie die Lebensqualität des Klägers auf Dauer nachhaltig. Im Übrigen stünden zur Behandlung von ADHS und den ebenfalls attestierten Depressionen allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen zur Verfügung, die auch hier zur Anwendung kommen könnten. Dabei seien die Grundsätze der evidenzbasierten Medizin heranzuziehen. Soweit der Hausarzt ausführe, der Kläger habe eine Tablettenphobie und könne deshalb keine Tabletten zu sich nehmen, reiche das nicht aus. Dieser Arzt behandele den Kläger erst seit etwa einem Jahr. Bereits nach weniger als drei Monaten und nach dem vierten Behandlungstermin habe er die ärztliche Bescheinigung zur Verwendung von Cannabinoiden ausgestellt. Zu diesem Zeitpunkt habe er offensichtlich keine einzige alternative Behandlung probiert, sondern sich vielmehr ausschließlich auf die Angaben des Klägers verlassen. Ob tatsächlich eine „Tablettenphobie“ vorliege, sei offensichtlich nicht hinterfragt oder gar überprüft worden. Es fehle auch an einer Auseinandersetzung mit der Frage, ob nicht die psychischen Probleme im Zusammenhang mit der Einnahme von Tabletten mittels Psycho- bzw. Verhaltenstherapie behandelbar wären. Vor allem aber habe sich der behandelnde Arzt nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob nach über zwanzig Jahren Cannabiskonsum nicht längst eine Sucht vorliege, die als Kontraindikation abzuklären und auszuschließen wäre. Nach der AWMF-Leitlinie solle Cannabis für die Behandlung der ADHS nicht eingesetzt werden.

Fazit

Die sorgfältig begründete, an Deutlichkeit nicht zu überbietende Entscheidung schiebt einem verbreiteten Wunschdenken den Riegel vor. „Cannabis auf Krankenschein“ gibt es nur in eng begrenzten gesetzlichen Ausnahmefällen, wie ein Blick in die etwa 160 in der Datenbank „www.sozialgerichtsbarkeit.de“ hierzu veröffentlichten Entscheidungen ergibt. Zu warnen ist die Ärzteschaft vor allem vor Gefälligkeitsattesten, mit denen leichtfertig Cannabis-Therapien befürwortet werden. Unabhängig von einer gewissen Einschätzungsprärogative und der Therapiefreiheit eines jeden Arztes muss die Einschätzung den Krankheitszustand des Versicherten dokumentieren und eine Abwägung enthalten, mit der zum Ausdruck gebracht wird, ob, inwieweit und warum (z. B. wegen welcher Nebenwirkungen) eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Anwendung kommen kann. Anderenfalls kommt solchen Attesten kein Beweiswert zu, im Extremfall drohen dem Arzt sogar straf-, berufs- und haftungsrechtliche Konsequenzen.


RA Detlef Kerber

lennmed.de Rechtsanwälte

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