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Wie schnell erreichbar müssen „ausgelagerte Praxisräume“ sein?

In seinem Urteil vom 06.04.2022 - B 6 KA 12/21 R - hat das BSG die Anforderungen an die Regelungen zum Betrieb von ausgelagerten Praxisräumen konkretisiert. Der wesentliche Sinn und Zweck des Erfordernisses der räumlichen Nähe zum Vertragsarztsitz liege in der persönlichen Erreichbarkeit des Vertragsarztes, wobei das BSG Ausführungen zu der maximalen Zeit macht, in der ausgelagerte Praxisräume vom Vertrags(zahn)arztsitz erreichbar sein müssen. 

Der Hintergrund

Die Zulassungsverordnungen für Ärzte und Zahnärzte ermöglichen es, „spezielle Untersuchungs- und Behandlungsleistungen“, die aus technischen, baulichen oder organisatorischen Gründen in der Praxis am Vertrags(zahn)arztsitz nicht erbracht werden, an einem anderen Ort „in räumlicher Nähe zum Vertrags(zahn)arztsitz“ durchzuführen. Beispiele hierfür sind die Auslagerung von medizinisch-technischen Spezial- oder Großgeräten (z.B. MRT-Geräten), das ambulante Operieren in einem Operationszentrum, die Untersuchung und Beprobung von Material in Laboreinrichtungen und die Anfertigung von Zahnersatz im Praxislabor. Weiterhin kommt eine Auslagerung in Betracht, wenn bestimmte apparative Einrichtungen zulässigerweise von mehreren Vertrags(zahn)ärzten gemeinsam genutzt werden („Apparategemeinschaft“).

Der Fall

Die klagende überörtliche BAG für Labormedizin-Pathologie-Zytologie, welche zwei MVZ betreibt, zeigte der KV Nordrhein an, in neuen Räumlichkeiten eine rein zytologisch tätige Praxisstätte ohne Patientenkontakt betreiben zu wollen. Dem trat die KV wegen fehlender räumlicher Nähe zum Vertragsarztsitz (ca. 10 km) entgegen.

Die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG)

Mit Urteil vom 06.04.2022 - B 6 KA 12/21 R - hat das BSG die Anforderungen an die Regelungen zum Betrieb von ausgelagerten Praxisräumen konkretisiert. Der wesentliche Sinn und Zweck des Erfordernisses der räumlichen Nähe zum Vertragsarztsitz liege in der persönlichen Erreichbarkeit des Vertragsarztes. Dies gelte insbesondere auch bei Notfällen. Ebenso wie bei Belegärzten zur Sicherstellung der erforderlichen Nähe zwischen Wohnung und Praxis und Krankenhaus sei auch bei ausgelagerten Praxisräumen eine Erreichbarkeit innerhalb von maximal 30 Minuten zu fordern. Auf die Entfernung (in km) komme es dabei nicht an.

Allerdings dürften in ausgelagerten Praxisstätten nur spezielle Untersuchungs- und Behandlungsleistungen erbracht werden und - anders als in Zweigpraxen - nicht das gesamte Spektrum. Dabei beziehe sich der Begriff der „speziellen Leistungen“ nicht auf die jeweilige Arztgruppe, sondern auf das Leistungsspektrum der betreffenden Praxis oder des MVZ. Am Sitz der Praxis bzw. des MVZ und in der ausgelagerten Praxisstätte dürften nicht im Wesentlichen die gleichen Leistungen erbracht werden.

Als eine Ausprägung der Präsenzpflicht müsse der Vertragsarzt am Vertragsarztsitz seine Sprechstunde halten, mithin persönlich in den Sprechstunden zur Verfügung stehen. Ob daraus generell zu schließen sei, dass in ausgelagerten Praxisräumen keine Sprechstunden abgehalten werden dürften, könne hier - bei rein zytologischen Laborleistungen ohne Arzt-Patienten-Kontakt in ausgelagerten Praxisräumen - dahinstehen. Versicherte müssten jedenfalls vor Inanspruchnahme der ausgelagerten Praxisräume den Vertragsarzt an seinem Vertragsarztsitz in Anspruch genommen haben.

Schließlich müsse die Tätigkeit am Vertragsarztsitz alle Tätigkeiten außerhalb des Vertragsarztsitzes zeitlich insgesamt überwiegen. Regelungen zur Verteilung der Tätigkeit zwischen dem Vertragsarztsitz und weiteren Orten sowie zu Mindest- und Höchstzeiten gälten bei MVZ nicht für den einzelnen im MVZ tätigen Arzt. Für MVZ gelte, dass die angegebenen Mindestzeiten für den Versorgungsauftrag des MVZ insgesamt unabhängig von der Zahl der beschäftigten Ärzte anzuwenden seien.

Hinweise für die Praxis

Das Vertrags(zahn)arztrecht grenzt ausgelagerte Praxisräume von der Zweigpraxis ab.

Eine Zweigpraxis muss von der KV bzw. KZV genehmigt werden. Voraussetzung dafür ist, dass sich die Versorgung der Versicherten am Ort der Zweigpraxis qualitativ oder quantitativ verbessert, ohne dass die ordnungsgemäße Versorgung am Ort des Vertrags(zahn)arztsitzes beeinträchtigt wird. Dabei haben die KVen bzw. KZVen einen Beurteilungsspielraum. Eine Versorgungsverbesserung kann etwa angenommen werden bei besserer Erreichbarkeit für die Patienten, deutlicher Verringerung der Wartezeiten, Abend- und Wochenendsprechstunden sowie besonderen Untersuchungs- oder Behandlungsmethoden. Die Entfernung zum Stammsitz in Verbindung mit der zeitlichen Einschränkung der Tätigkeit hat zwar gewisse Bedeutung; eine kurze Anwesenheit an nur zwei Tagen wöchentlich in der Zweigpraxis schließt per se eine qualitative Verbesserung aber ebenso wenig aus wie eine große Entfernung zwischen Zweigpraxis und Stammsitz. Die Tätigkeit am Vertrags(zahn)arztsitz muss zeitlich insgesamt überwiegen; es müssen mindestens 25 Sprechstunden pro Woche pro Vertrags(zahn)arzt am Vertrags(zahn)arztsitz (bei Teilzulassung entsprechend anteilig) abgehalten werden. Im Bereich der Zweigpraxis besteht zudem die Pflicht zur Teilnahme am Notfalldienst (im Umfang des jeweiligen Versorgungsauftrages).

Ein deutliches Unterscheidungskriterium zu Zweigpraxen liegt bei ausgelagerten Praxisräumen darin, dass in diesen nur spezielle, d.h. keine allgemeinen Untersuchungs- und Behandlungsleistungen erbracht werden dürfen. Wichtig ist die räumliche Nähe zum Vertrags(zahn)arztsitz (in der Regel nicht mehr als 30 Minuten entfernt), der Erstkontakt der GKV-Patienten nur am Vertrags(zahn)arztsitz, grundsätzlich kein Sprechstundenangebot am Ort der ausgelagerten Praxisräume, die persönliche Leistungserbringung, eine klare räumliche, personelle und organisatorische Abgrenzung zur Umgebung sowie ein eigenes Praxisschild ohne Sprechzeiten. Ort und Zeitpunkt der Aufnahme der Tätigkeit in den ausgelagerten Praxisräumen sind der KV bzw. KZV unverzüglich anzuzeigen. Die Behörde wird dadurch in die Lage versetzt, die Einhaltung der Anforderungen an ausgelagerte Praxisräume überprüfen zu können. Eine Genehmigungspflicht besteht insoweit jedoch nicht.


RA Detlef Kerber

lennmed.de Rechtsanwälte

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