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BSG: Auch bei tödlich verlaufender Erkrankung kein Anspruch auf nicht zugelassenes Medikament

Kurz vor dem allgemeinen Aufbruch in die Sommerferien wurde unter Sozialrechtlern dieses Urteil heiß erwartet: Am 29.06.2023 (Az. B 1 KR 35/21 R) entschied das Bundessozialgericht (BSG), dass Versicherte keinen Anspruch auf Arzneimittel haben, die – wegen einer negativen Bewertung durch die für Arzneimittelsicherheit zuständige Behörde – für die betreffende Indikation keine Zulassung erhalten haben. Dies gelte auch für den Einsatz bei regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheiten. Unerheblich sei hierbei, ob die Negativbewertung des medizinischen Nutzens des Arzneimittels auf einer aussagekräftigen Studienlage beruht oder wegen methodischer Probleme bei Auswahl und Analyse der vom Hersteller vorgelegten Daten nicht bestätigt werden könne.

Der Fall

Der Kläger leidet an einer genetisch bedingt fortschreitenden und typischerweise im frühen Erwachsenenalter tödlichen Erkrankung (Duchenne-Muskeldystrophie, DMD) und ist seit 2015 gehunfähig. Im Juli 2019 beantragte er bei seiner Krankenkasse die Kostenübernahme für das Arzneimittel Translarna, welches in der EU für die Behandlung der DMD bei gehfähigen Patienten ab dem Kindesalter zugelassen ist. Hinsichtlich gehunfähiger Patienten beantragte der Hersteller bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) im Jahr 2018 eine Erweiterung der Indikation von Translarna auf gehunfähige DMD-Patienten. Dies wurde allerdings mangels Wirksamkeitsnachweis bei gehunfähigen Erkrankten abgelehnt und durch den Hersteller dann auch nicht weiterverfolgt. Die beklagte Krankenkasse lehnte deswegen den Antrag des Klägers auf Kostenübernahme für Translarna ab. Hiergegen wandte sich der Kläger gerichtlich und hatte damit in zweiter Instanz vor dem Landessozialgericht Rheinland-Pfalz Erfolg. Dieses verurteilte die Beklagte, den Kläger unter Abgabe einer Kostenübernahmeerklärung mit Translarna zu versorgen. Dagegen wandte sich wiederum die unterlegende Krankenkasse und rügte in dem Revisionsverfahren vor dem BSG, dass die Ablehnung einer Zulassungserweiterung eine Sperrwirkung entfalte; gleichgestellt seien zudem Fälle, in denen der Hersteller - wie hier - einen Antrag auf Zulassungserweiterung im Hinblick auf ein negatives behördliches Gutachten nicht weiterverfolge. Eine Kostenübernahme hinsichtlich Translarna scheide deswegen im konkreten Fall aus.

Die BSG-Entscheidung

Das BSG bestätigte die Auffassung der beklagten Krankenkassen. Zwar hätten Versicherte, die sich wegen ihrer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung in einer notstandähnlichen Situation befinden unter erleichterten Voraussetzungen Anspruch auf Krankenbehandlung. Dies insbesondere auch betreffend Arzneimittel, deren Wirksamkeit medizinisch noch nicht voll belegt sei. Erforderlich ist hierfür nach § 2 Abs. 1a SGB V, welcher aus der sog. Nikolaus-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005 resultiert, dass eine nicht ganz entfernte Aussicht auf Heilung oder positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bestehe. Hieran mangele es aber im gegebenen Fall, zumal die Arzneimittelbehörde die vom Hersteller vorgelegten Unterlagen im Zulassungsverfahren inhaltlich geprüft, aber negativ bewertet habe. Denn gerade auch bei schweren Erkrankungen müsse die Arzneimittelzulassung Patienten vor unkalkulierbaren Risiken schützen. Zudem bestehe aufgrund hoher fachlicher Expertise von Arzneimittelbehörden durch das Zulassungsverfahren auch eine wissenschaftlich einwandfreie und unabhängige Prüfung. Darüber hinaus sehe das Arzneimittelrecht ein strukturiertes Qualitätssicherungssystem und für Härtefälle auch Ausnahmeregelungen vor.

Die Sperrwirkung einer Nichtzulassung könne auch im Nachgang überwunden werden, wenn zu einer negativen arzneimittelrechtlichen Bewertung neue wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen würden, die zumindest die Voraussetzungen einer vereinfachten, gegebenenfalls bedingten Zulassung erfüllten.


Rechtsanwältin Walburga van Hövell, LL.M. (Medizinrecht)

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