Skip to main content

Hijab-Kopftuch in der (Zahn-)Arztpraxis?

In einer aktuellen Entscheidung vom 13.10.2022 (Az. C 344/20) hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Frage zu klären, ob Europarecht das Verbot des Tragens eines Kopftuches rechtfertigt.

Der Hintergrund

„Der Islam gehört zu Deutschland“, hatte der damalige Bundespräsident Christian Wulff in einer Grundsatzrede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit betont. Gleichwohl ist die Sichtbarkeit religiöser Symbole seit langem Gegenstand kontroverser Diskussionen. Das betrifft namentlich das von Musliminnen getragene Kopftuch. Bei der Ausübung staatlicher Amtshandlungen in Schulen, Behörden und Gerichten dürfen Landesgesetze zur Wahrung der Neutralität Einschränkungen religiös konnotierter Bekleidung (Kopftuch, Kreuz, Kippa) vorsehen. Gilt das aber auch im privaten Arbeitsverhältnis?

Der Fall

Eine Muslimin wandte sich dagegen, dass ihre Initiativbewerbung um einen Praktikumsplatz nicht berücksichtigt worden war, weil sie während des Bewerbungsgesprächs angegeben hatte, sie weigere sich, ihr Kopftuch abzunehmen. Das beklagte belgische Unternehmen verwaltet Sozialwohnungen und verfolgt in seiner Arbeitsordnung eine strikte Neutralitätspolitik. Es duldet in seinen Geschäftsräumen keinerlei Kopfbedeckung, weder eine Mütze noch eine Kappe oder ein Kopftuch.

Die Klägerin erhob sodann beim französischsprachigen Arbeitsgericht in Brüssel Klage. Das Arbeitsgericht legte dem EuGH u. a. die Frage vor, ob das in der Arbeitsordnung niedergelegte Verbot, ein konnotiertes Zeichen oder Bekleidungsstück zu tragen, eine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion im Sinne der Richtlinie 2000/78/EG darstelle.

Die Entscheidung

Der EuGH hält Kopftuchverbote am Arbeitsplatz unter bestimmten Umständen für zulässig. Eine interne Unternehmensregel, die das sichtbare Tragen religiöser, weltanschaulicher oder spiritueller Zeichen verbietet, stelle keine unmittelbare Diskriminierung dar, wenn sie allgemein und unterschiedslos auf alle Arbeitnehmer angewandt werde. Sofern allerdings eine dem Anschein nach neutrale Verpflichtung tatsächlich Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung in besonderer Weise benachteilige, läge eine mittelbare Diskriminierung vor. Diese sei nur dann statthaft, wenn sie durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt wäre und die Mittel zur Erreichung dieses Zieles angemessen und erforderlich wären. Dabei reiche allerdings der bloße Wille eines Arbeitgebers, eine Neutralitätspolitik zu betreiben, für sich genommen nicht aus, vielmehr habe er ein wirkliches Bedürfnis nachzuweisen, etwa weil seinem Unternehmen ein Nachteil entstehen könnte, wenn religiöse Symbole offen getragen würden. Ob der Religionsfreiheit bei der Interessenabwägung zur Beurteilung der Angemessenheit der Neutralitätsregel eine größere Bedeutung beizumessen ist als der unternehmerischen Freiheit, richte sich nach den Wertungen des nationalen Rechts.

Hinweise für die Praxis

Grundsätzlich gilt das Recht auf Religions- und weltanschauliche Freiheit auch im Arbeitsleben. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verbietet eine Benachteiligung auch wegen der Religion oder Weltanschauung in Beschäftigung und Beruf. Geschützt ist dabei nicht nur die Religionszugehörigkeit, sondern auch das öffentliche Bekenntnis der religiösen Überzeugung, z. B. durch das Tragen religiöser Symbole oder Kleidungsstücke, sowie die religiöse Betätigung. Dieser Schutz gilt für alle abhängigen Beschäftigungsverhältnisse und erstreckt sich auf alle Phasen des Beschäftigungsverhältnisses, von der Bewerbung und Einstellung über die Fortbildung und Beförderung, die Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses.

Das AGG unterscheidet wie der EuGH verschiedene Formen von Diskriminierung. Eine unmittelbare (direkte oder offene) Benachteiligung liegt etwa vor, wenn sich eine muslimische Frau als Arzthelferin bewirbt und wegen ihres Kopftuches abgelehnt wird. Dieses Beispiel wird in einer Broschüre der Antidiskriminierungsstelle des Bundes ausdrücklich benannt.

Auch die vom EuGH aufgeworfenen mittelbaren (indirekten) Benachteiligungen unterfallen dem Diskriminierungsschutz des AGG. Das sind dem Anschein nach neutrale Regelungen, die bestimmte Personengruppen benachteiligen können. Das kann z. B. dann der Fall sein, wenn ein Arbeitgeber Fortbildungsveranstaltungen auf einen Samstag legt, der für Mitglieder bestimmter Religionsgemeinschaften ein religiöser Feiertag ist.

Das AGG sieht jedoch Ausnahmen vor. Ein Kopftuchverbot kann in engen Grenzen gerechtfertigt sein, wenn der Verzicht auf ein Kopftuch für die Ausübung der Tätigkeit eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung ist, sofern der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist. Das kommt etwa dann in Betracht, wenn ein Arbeitgeber allen Beschäftigten in der Nähe von gefährlichen Maschinen untersagt, Kleidung zu tragen, die die Gefahr mit sich bringt, in die Maschine zu geraten.

Ausblick

Am 30. März 2023 wird das BAG darüber befinden, ob die Frage nach dem Tragen eines islamischen Kopftuches bei der Besetzung der Stelle einer Erzieherin in einer städtischen Kindertagesstätte eine unzulässige Benachteiligung wegen der Religion darstellt und der Arbeitgeber nach dem AGG deshalb eine Entschädigung zahlen muss. Es ist zu erwarten, dass das BAG eine grundsätzliche dogmatische Linie für den vom EuGH geforderten Abwägungsvorgang unter Einbezug der Rechtsprechung auch des Bundesverfassungsgerichts entwickeln wird, die auch für Arzt- und Zahnarztpraxen Geltung beanspruchen wird. Wir werden berichten.


RA Detlef Kerber

lennmed.de Rechtsanwälte

Bonn | Berlin | Baden-Baden