Skip to main content

Sorgfaltsmaßstab des Behandlers bei fehlenden allgemein anerkannten fachlichen Standards

Das Landgericht Flensburg (LG) setzte sich zuletzt in seinem Urteil vom 08.10.2021 (Az. 3 O 199/18) mit dem haftungsrechtlichen Sorgfaltsmaßstab in einer Situation auseinander, bei der aufgrund der Seltenheit und Außergewöhnlichkeit der vorzunehmenden Behandlung kein allgemein anerkannter fachlicher Standard gemäß § 630a Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) besteht. Es geht in einer solchen Situation davon aus, dass der Sorgfaltsmaßstab eines vorsichtig Behandelnden gemäß der allgemeinen Regelung des § 276 Abs. 2 BGB heranzuziehen sei.

 

Sachverhalt

Stark verkürzt ging es in dem Fall um eine Patientin, die mit starken Beschwerden in der Brust ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Die folgenden Untersuchungen unter zeitlichem Höchstdruck ergaben dabei eine Dissektion der linken Koronararterie. Bei den vorgenommenen Untersuchungen wurden auch derartige vorgenommen, die später gutachterlich als überflüssig und in der Tendenz eher schädigend festgestellt wurden. Trotz Verlegung zur Notoperation und Reanimationsversuchen verstarb die Patientin noch in der Nacht.

Insgesamt sah sich der Behandelnde „bei dem Krankheitsbild der Patientin einer Situation ausgesetzt, die nur wenige Kardiologen deutschlandweit jemals während ihres ganzen Berufslebens erleben würden und die nicht zu trainieren sei, weil sie im Alltag zu selten auftrete, und für deren Behandlung es auch weder in Lehrbüchern, Leitlinien o. ä. Handlungsanleitungen oder -beschreibungen gäbe.“

 

Rechtliche Bewertung

Die Seltenheit dieses Krankheitsbildes führte zu der Problematik, dass es an der erforderlichen ärztlichen Erfahrung und Erprobung zur Bestimmung eines ärztlichen Standards im Sinne des § 630a Abs. 2 BGB fehle.

Ist dieser nicht existent, so tritt an seine Stelle der allgemeine Sorgfaltsmaßstab des § 276 Abs. 2 BGB, wonach die Sorgfalt eines vorsichtig Behandelnden einzuhalten sei: „Die in § 630a Abs. 2 BGB getroffene Regelung ist nur eine Ergänzung des Sorgfaltsmaßstands des § 276 Abs. 2 BGB“.

 

Anwendung auf den Fall

Im Zuge der notfallartigen Behandlung ist das Gericht davon überzeugt, dass der Behandelnde „nicht unter Einsatz der von ihm zu fordernden medizinischen Kenntnisse und Erfahrungen wie ein vorsichtig Behandelnder vertretbare Entscheidungen über die diagnostischen sowie therapeutischen Maßnahmen getroffen und diese Maßnahmen sodann sorgfältig durchgeführt hat. Gegen die einen vorsichtig Behandelnden treffenden Sorgfaltspflichten hat der Beklagte verstoßen, indem er trotz der bereits nach der ersten Aufnahme gefällten Diagnose einer spontanen Dissektion des Hauptstamms der linken Koronararterie weitere Aufnahmen der linken Koronararterie anfertigte und die Patientin zusätzlich intrakoronar mit einem Einzelbolus von 15 ml Aggrastat versorgte.“

 

Entscheidend wird in dem Urteil sodann die „berufliche Ausnahmesituation“ anerkannt und dennoch folgendes Vorgehen als Leitmotiv festgestellt: „Trotz des Fehlens eines anerkannten fachlichen Standards war übergeordnetes Ziel der vorsichtigen Behandlung der erkannten Dissektion aber, diese jedenfalls nicht zu vergrößern, deswegen so wenig wie möglich zu manipulieren und das wahre Lumen des Hauptstammes der linken Herzkranzarterie zu erhalten“. Dies zu Missachten stellte folglich einen groben Behandlungsfehler des Behandelnden dar.

 

Fazit

An diesem Urteil ist festzuhalten, dass das Gericht bei einer außergewöhnlichen Situation keinen strengeren, sondern einen allgemeineren Maßstab zur Prüfung der haftungsrechtlichen Sorgfalt heranzieht. Ist indes die außergewöhnliche Situation erkannt, so ist besondere Vorsicht geboten, jedenfalls keine Verschlimmerung der Situation durch weitere potenziell schädigende Untersuchungen zu verursachen.


Robert Prümper

Wissenschaftlicher Mitarbeiter

lennmed.de Rechtsanwälte

Bonn | Berlin | Baden