Skip to main content

Verkürzung des Genesenenstatus auf 90 Tage ist verfassungswidrig

Problemstellung

Der Nachweis „genesen“ als Ersatz zu „geimpft“ ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, den ab 16. März 2022 drohenden Betretungs- und Tätigkeitsverboten in der Praxis zu entgehen und unter 2G-Bedingungen am sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben teilzunehmen. Bisher betrug die Gültigkeitsdauer für den Genesenennachweis nach der Covid-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmeverordnung (SchAusnahmV) vom 8. Mai 2021 sechs Monate. Zum 15. Januar 2022 wurde die Verordnung dahin geändert, dass der Genesenennachweis den vom Robert-Koch-Institut (RKI) im Internet unter der Adresse „www.rki.de/covid-19-genesenennachweis“ veröffentlichten Vorgaben zu entsprechen hat. Zum selben Tag änderte das RKI seine fachlichen Vorgaben für Genesenennachweise dahin, dass das Datum der Abnahme des positiven Tests (PCR o.ä.) höchstens 90 Tage zurückliegen darf. Der Verordnungsgeber hat damit den von sechs auf drei Monate reduzierten Genesenenzeitraum nicht mehr selbst in der Verordnung geregelt, sondern nimmt insofern Bezug auf die Veröffentlichungen des RKI im Internet. 

 

Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Osnabrück

Der Antragsteller begehrte vom Gesundheitsamt die Erteilung eines Genesenennachweises für den Zeitraum vom 22. Januar 2022 (Entlassung aus der Quarantäne) bis zum 21. Juli 2022. Das Amt stellte den Nachweis jedoch nur für drei Monate aus, beginnend mit dem 11. Februar 2022. Mit Beschluss vom 04.02.2022 – (Az. 3 B 4/22) im Wege der einstweiligen Anordnung hat das Verwaltungsgericht Osnabrück (VG) die Behörde verpflichtet, einen Genesenennachweis für den Zeitraum 11. Februar 2022 bis 13. Juli 2022 auszustellen.

 

Der Beginn des Genesenenstatus

Diesen hat das Gericht entsprechend der insoweit unverändert gebliebenen SchAusnahmV auf 28 Tage nach der festgestellten Infektion festgesetzt. Diese Dauer sei nach wissenschaftlich allgemein anerkannten Erwägungen darin begründet, dass das Immunsystem eine gewisse Zeit benötige, um eine stabile Antikörper-Antwort aufzubauen. So solle sichergestellt werden, dass mit dem Genesenenzertifikat auch ein ausreichender Immunschutz einhergehe. Nach demselben Prinzip gehe man auch bei der Impfung vor. Dort betrage die Zeitspanne zwischen der letzten erforderlichen Impfung und dem Gültigkeitsbeginn des Impfzertifikates 14 Tage, um dem Körper genug Zeit zu geben, einen Immunschutz aufzubauen.

 

Das Ende des Genesenenstatus

Die Begrenzung des Genesenennachweises auf 90 Tage sei jedoch verfassungswidrig; insofern gelte der frühere Zustand von sechs Monaten weiter. Indem der Verordnungsgeber die konkrete Ausgestaltung der Norm (wann eine Immunisierung vorliege, durch wen diese festgestellt werde, wie lange sie gelte und welche Ausnahmen möglich seien) vollständig dem RKI überlasse, gebe er eigene Aufgaben an diese Behörde weiter, ohne dazu gesetzlich ermächtigt gewesen zu sein. Die dynamische Verweisung auf die Internetseite des RKI verstoße auch gegen das Verkündungsgebot und den Bestimmtheitsgrundsatz. Denn der Inhalt dieser Seite könne sich quasi sekündlich ändern. Der Rechtsanwender müsse somit ständig überprüfen, ob die Internetseite weiterhin denselben Inhalt habe, um über die Rechtslage informiert zu bleiben. Fraglich sei zudem, ob im Fall einer Änderung der Internetseite der frühere Inhalt archiviert abrufbar bleibe, um es sowohl für Bürger als auch Behörden und Gerichte nachvollziehbar zu machen, welche Regelung zu einem bestimmten Zeitpunkt gegolten habe. Dieser Aspekt habe insbesondere im Rahmen eines Ordnungswidrigkeitsverfahrens erhebliche Bedeutung. Schließlich könnte es auch einen technischen Ausfall der Seite geben, die zur Folge hätte, dass die Regelungen nicht abgerufen werden könnten. Auch fachlich bestünden durchgreifende Zweifel an der Verkürzung des Zeitraumes. Das RKI habe lediglich drei Quellen aufgeführt, die sich überdies zum großen Teil überhaupt nicht konkret mit der Dauer des Genesenenstatus beschäftigten. Demgegenüber stehe eine Vielzahl von namhaften Stimmen aus Wissenschaft und Praxis, die eine Verkürzung dieses Status auf drei Monate für nicht nachvollziehbar und überflüssig halte.

 

Auswirkungen für die Praxis

Die Entscheidung gilt nur in diesem Einzelfall und zunächst nur vorläufig. Sie steht unter dem Vorbehalt, dass der Antragsteller binnen zwei Wochen sog. Verpflichtungsklage in der Hauptsache erhebt.

In der Sache selbst überzeugt der Beschluss in vollem Umfang. Es war schon bisher rechtlich zweifelhaft, ob solche Regelungen, die eine weitreichende Auswirkung auf die Grundrechtsausübung haben, nur in einer Rechtsverordnung der Bundesregierung anstatt in einem vom Bundestag beschlossenen Parlamentsgesetz getroffen werden. Im Parlament gibt es mehrere Lesungen eines Gesetzes, Ausschussberatungen, Anhörungen und vieles mehr, so dass wichtige Regelungen öffentlich diskutiert werden. Unhaltbar ist es jedoch, wenn die Bundesregierung über ihre Weisungsmöglichkeit an das RKI in einer öffentlich kaum bemerkbaren Änderung der SchAusnahmV die Basis für Grundrechtsentzüge definiert, ohne diese nach Außen verantworten zu müssen. Denn Änderungen erscheinen dann weder im Bundesgesetzblatt noch im Bundesanzeiger, sondern allein auf einer - zudem flüchtigen - Internetseite. Das haben u. a. der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages und das Netzwerk Kritische Richter und Staatsanwälte heftig kritisiert.

 

Ob und unter welchen Bedingungen zumindest ein Bestandsschutz für den sechsmonatigen Zeitraum für diejenigen besteht, die bereits zum 15. Januar 2022 einen Genesenenstatus hatten, wird noch zu klären sein. Da es sich bei dem Genesenennachweis um einen Bescheid (sog. Verwaltungsakt) handelt, müsste dieser nach den Regelungen des Verwaltungsverfahrensrechts aufgehoben werden, wenn der Zeitraum verkürzt werden sollte. Ob die Behörde das rechtssicher durchführen kann, begegnet erheblichen Bedenken. Solange aber die SchAusnahmV als Bundesrecht hinsichtlich des Zeitraumes nicht aufgehoben worden ist, muss jeder Betroffene selbst in einem eigenen Verfahren gegen das für ihn zuständige Gesundheitsamt gerichtlich vorgehen. Die Entscheidung des VG Osnabrück entfaltet Rechtswirkung nur zwischen den Beteiligten jenes Verfahrens; aus Rechtsgründen konnte das Gericht die SchAusnahmV nicht allgemein verwerfen. 


RA Detlef Kerber

lennmed.de Rechtsanwälte

Bonn | Berlin | Baden